Leseprobe:

Besuch von Drüben - Die Entscheidung

Sam nahm seinen Helm ab und legte ihn zur Seite. Bei dieser Sprengkraft,

die vor ihm lag und auf seine Entscheidung wartete, konnte ihm auch der
schwere Schutzanzug keinen Schutz mehr bieten. Aber er konnte sich den
Schweiß aus dem Gesicht wischen. Dann nahm er den Drahtschneider und
setzte ihn an dem roten Draht an. Sam sprach ein letztes Gebet. Es war nur
kurz, aber es kam von ganzem Herzen. Von einem Herzen, das schwer und
laut und schnell pochte.
»Schneide besser den grünen Draht durch«, vernahm er eine Stimme aus
unmittelbarer Nähe. Sam schaute auf. Auf der anderen Seite der Bombe saß
ihm gegenüber plötzlich ein junger Mann auf dem Fußboden. Jedenfalls
glaubte Sam, dass er jung war. Von seinem Körper war nämlich nicht mehr
viel übrig. Nur noch Stümpfe, wo Arme und Beine sein sollten. Das Gesicht
entstellt, blutig und verbrannt. Die Kleidung zerrissen und schmutzig. Aber
der Mann lächelte Sam an und schien keine Schmerzen zu verspüren.
»Wer bist du?«, fragte Sam und starrte diesen armen Teufel an.
»Ich bin Ali. Ich habe die falsche Entscheidung getroffen und den falschen
Draht durchtrennt. Nun triff du die richtige Entscheidung.«
Sam atmete tief durch, setzte den Drahtschneider nun an dem grünen
Stück an. »Bist du tot?«, fragte er und glaubte, dass er durch die Stresssituation
nur eine Halluzination erlebte.
»Das kann man wohl so sagen, ja.«
»Und warum sitzt du dann hier und redest mit mir?«
»Ich bin gekommen, um dich zu unterstützen. Zu zweit können wir es
schaffen. Also los, schneide den grünen Draht durch.«
Sam gab ein wenig Druck auf die Zangengriffe, aber noch nicht genug, um
den Draht zu durchtrennen. Die Zeit lief zwar ab, aber noch hatte er genug
davon, um seinen Handgriff zu überdenken. »Vielleicht bist du ja ein
Bombenbauer und kein Bombenentschärfer und willst mich nur überreden,
mich zu dir in die Hölle zu befördern.«
Ali zuckte leicht mit den Schultern. »Vielleicht. Du wirst es gleich herausfinden.
Aber schaue ich aus wie ein Bombenbauer? Oder doch eher, wie ein
Bombenentschärfer?«
»Du siehst ziemlich Scheiße aus«, murmelte Sam und versuchte sein
Gegenüber besser einzuschätzen.
Ali lachte leise. »Ja, aber nur, weil ich meinen kaputten Körper noch einmal
benutzt habe, um mich dir zeigen zu können. Ohne diesen verkohlten
Fleischklumpen, wäre ich jetzt aber viel zu hübsch, um dir vor die Augen
treten zu können.«
»Na, das klingt doch verlockend. Vielleicht sollte ich doch besser den
roten Draht kappen?«
»Dann zerreißt es mich auch ein zweites Mal. Da hätte ich mir den Weg
zurück in diesen schmutzigen stinkenden Keller auch sparen können. Und
der Bombenbauer freut sich über sein gelungenes Werk. Willst du das?«
»Vielleicht hat der Bombenbauer diese hier ja anders aufgebaut, als die,
die dich zerfetzt hat«, überlegte Sam laut.
»Das hat er in der Tat. Ich hatte mich auch für den grünen Draht entschieden.
Das hat die Explosion ausgelöst. Bei dir würde nun aber der rote Draht
die Explosion auslösen. Der Bombenbauer ist wirklich ein bösartiger und
durchtriebener Mensch, musst du wissen.«

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© Autor Stefan Bouxsein