Leseprobe:

Die böse Begierde

Der Abt hatte ihm eine Einzelzelle zugewiesen, damit er sich in aller Abgeschiedenheit mit dem auseinandersetzen konnte, was ihm so unverhofft zuteilgeworden war. Sein Körper sollte rein sein, damit er einen klaren Geist habe, hatte der Abt verordnet. Und er sollte viel beten. Beten und fasten.

Er trank einen Schluck Wasser, aß ein trockenes Stück Brot und schlug seinen braunen Ledereinband auf.

 

Mein Leben, Wilhelmine Arenz

Nach unserer Hochzeit zogen Fritz und ich in das nahe gelegene Königsberg. Fritz fand dort eine Wohnung und Arbeit in einer Fabrik. Abends saßen wir gemeinsam vor dem Radio, dem Hochzeitsgeschenk seiner Eltern. Wir lauschten den Stimmen, die aus dem Radio kamen. Man sprach über uns. Über Ostpreußen, das seit dem Versailler Vertrag mitten in Polen lag und keine direkte Verbindung zum Deutschen Reich mehr hatte. Hitler wollte Danzig zurückhaben. Hitler wollte Ostpreußen mit einer exterritorialen Eisenbahn an das Reich anbinden. Fritz war begeistert von Hitler und seine Begeisterung übertrug sich auf mich. Wir lauschten den Stimmen aus dem Radio und wussten, dass die ganze Welt auf uns schaute. Als die deutsche Armee im September 1939 endlich die polnische Grenze überschritt, lagen Fritz und ich uns jubelnd in den Armen. Nur wenige Wochen später berichteten die Stimmen aus dem Radio aus Warschau, wo am 3. Oktober die deutsche Siegesparade stattfand. Sie beschrieben uns die siegreichen deutschen Soldaten, die zwischen zerschossenen Häusern, umgestürzten Straßenbahnwagen und anderen Barrikaden im Gleichschritt marschierten, den Arm zum Gruß erhoben. „Heil Hitler!“ ertönte es tausendfach in unserem bescheidenen Wohnzimmer. Mir machte das beschriebene Bild der Verwüstung Angst. Bei Fritz hatte es eine vollkommen andere Wirkung. Er wollte Polen brennen sehen und beschwor das neue Deutsche Reich. An diesem Tag beschloss Fritz, Soldat zu werden.

Alles war gut. Das Deutsche Reich hatte Ostpreußen wieder in sich aufgenommen. Die deutsche Armee war unbesiegbar, der Führer unsterblich und Fritz voller Tatendrang und Manneskraft. Die Nacht nach der Siegesparade in Warschau war die Nacht, in der Fritz mich schwängerte.

 

20. Dezember 2007, 12:05 Uhr

Im Schlafzimmer der Eheleute Liebig tummelten sich drei Kollegen von der Spurensicherung mit übergezogenen Plastikanzügen. Siebels blieb am Türrahmen stehen. Das Erste, was ihm auffiel, war die Botschaft, von der Petri gerade gesprochen hatte. Mit blutverschmiertem Finger war sie auf die Spiegelfront des Kleiderschrankes geschrieben worden.

 

Cavendum ergo ideo malum desiderium quia mors secus introitum delectationis posita est.

 

„Mein Latein beschränkt sich leider auf das medizinische“, bedauerte Petri. „Das hier klingt auf jeden Fall religiös.“

„Ein religiös motivierter Mörder?“ Siebels drehte sich zu Petri um. „So was gibt es entweder im Kino oder in Amerika, aber doch nicht mitten in Frankfurt.“

„Jetzt anscheinend schon. Irgendwann kommt ja alles mal von den Amis hier drüben an“, sinnierte Petri. „Am besten fragen Sie mal einen Fachmann aus der Kirche, da wird Ihnen bestimmt geholfen.“

„Schreib das mal auf“, wies Siebels Till an.

„Wir haben sie!“ Die Stimme kam von unten und war die von Jensen.

„Wen haben wir?“, brüllte Siebels zurück.

Hastig kam Jensen die Treppe herauf. „Na, die Liebigs natürlich. Sie befinden sich auf einer Reise in Kalifornien. Jetzt machen sie sich aber unverzüglich auf den Rückweg.“

„Das kann ja noch etwas dauern“, antwortete Siebels. „Jetzt rede ich erst mal mit der Haushälterin und dann fahren wir in die Psychiatrie. Ich kann es kaum erwarten, mir diesen Kerl anzuschauen, der seelenruhig mit irrem Blick im Blut der Toten gesessen haben soll.“

Die Blicke von Siebels und Till wanderten von dem blutbeschmierten Spiegel des Kleiderschrankes durch den Raum. Die tote Magdalena Liebig lag auf dem elterlichen Bett. Der dunkelbraune Parkettboden war überall mit Blut verschmiert. Siebels schätzte sie auf Mitte vierzig. Er fragte sich, warum eine Frau in diesem Alter nackt auf dem Bett der Eltern getötet wurde. Sie war etwas mollig, aber nicht dick.

„Wo sind denn ihre Klamotten?“, fragte Till den Chef der Spurensicherung.

„Die waren im ganzen Haus verteilt. Darum haben wir uns zuerst gekümmert. Alles genau dokumentiert und fotografiert. Unten vor der Eingangstür lag der Rock. Die Bluse fanden wir auf der untersten Treppenstufe. Strumpfhose im Flur, Slip im Schlafzimmer unter dem Fensterbrett.“

„War etwas zerrissen?“

„Nein. Sieht nicht so aus, als hätte sie einer gegen ihren Willen ausgezogen.“

„Hatte sie Geschlechtsverkehr?“

„Das fragen Sie besser Petri.“

Siebels drehte sich um, Petri stand am anderen Ende des Flurs und schaute aus dem Fenster. Siebels gesellte sich zu ihm. Von hier aus hatte man freien Blick auf die Pferderennbahn.

„Geschlechtsverkehr?“

„Ja.“

„Vergewaltigung?“

„Eher nein.“

„Danke.“

„Gerne.“

Siebels ging zurück zur Leiche und zur Spurensicherung. „Habt ihr hier noch was von dem Mann gefunden, der in ihrem Blut gesessen hat?“

„Nee, der war schon weg, als wir eintrafen.“

Siebels fluchte innerlich. Wenigstens auf die Spurensicherung hätte der alte Petri warten können, bevor er den Kerl in die Klapse verfrachtet hatte. Er ging wieder den Gang zurück zu Petri.

„Der Mann, der war nackt?“

„Ja.“

„Wo waren seine Klamotten?“

„Keine Klamotten.“

„Keine Klamotten? Sicher?“

„Wir haben nichts gefunden. Es sei denn, er hat seine Kleider in den Kleiderschrank ihrer Eltern gehängt. Das wurde noch nicht überprüft, soweit ich weiß.“

„Sehr merkwürdig. Haben Sie ihn nackt in die Klinik einliefern lassen?“

„Mein Mantel. Ich habe ihm meinen Mantel gegeben.“

„Sie sind ein Samariter.“

„Ich weiß. Tut mir leid, dass ich Ihnen die Arbeit erschwere mit meiner eigenmächtigen Entscheidung, den Kerl einliefern zu lassen. Aber Staatsanwalt Jensen hat darauf bestanden, dass Sie und Ihr Kollege Krüger den Fall übernehmen. Und Sie beide waren ja offiziell schon im Urlaub. Es ist bereits ein paar Stunden her, dass wir den Mann oben aufgefunden haben. Er saß da, als die Haushälterin kam. Das war so gegen neun. Die ersten Polizeibeamten kamen zehn Minuten später. Sie waren nicht in der Lage, den Mann vom Fußboden wegzuholen. Sie hatten Angst vor ihm. Stellen Sie sich vor, die Beamten stehen mit gezogenen Waffen vor einem Mann, der regungslos im Blut von Frau Liebig sitzt. Er nahm von den Beamten gar keine Notiz. Angeblich hat er etwas vor sich hin gebrummt. Aber niemand verstand, was er sagte. Wenn sie ihn anfassen wollten, bekam er Schreianfälle. Ich musste ihn fortschaffen lassen. Das ging erst, als ich ihm eine Beruhigungsspritze gegeben hatte. Vier Mann mussten ihn dazu festhalten.“

Siebels nickte nachdenklich. „Vielleicht kann uns ja die Haushälterin etwas über ihn erzählen. Kommen Sie mit nach unten, wenn ich sie befrage?“

„Ja, gerne. Anschließend möchte ich Sie sowieso begleiten, wenn Sie in die Klinik fahren. Der Mann interessiert mich.“

Siebels beauftragte Till, herauszufinden, was auf dem Spiegel im Schlafzimmer geschrieben stand, bevor er sich mit Petri nach unten zu Frau Bromowitsch begab. Till schaute den beiden ratlos hinterher und dann noch ratloser auf seinen Zettel, auf dem er die Wörter notiert hatte.

 

3

 

Er saß in seiner Zelle und betrachtete sich den braunen Ledereinband. Vorsichtig berührte seine Hand das Leder und strich sanft darüber. Er konnte sich diesem Buch nicht entziehen. War es Teufelswerk, das er so zärtlich streichelte? Er verwarf den Gedanken und öffnete den Band.

 

Mein Leben, Wilhelmine Arenz

Seit Dezember 1939 war ich als Aushilfsschwester im Krankenhaus tätig. Oberschwester Hildegard hatte sich meiner angenommen und mich dazu ermutigt, die Ausbildung zur Krankenschwester anzutreten. Ich stimmte zu.

Im Januar 1940 erlebte ich das erste Mal, wie Fritz von einem Krampfanfall heimgesucht wurde. Am Tag zuvor war er schriftlich bis auf Weiteres vom Einsatz bei der Wehrmacht befreit worden. Man hatte ihn auf eine Liste gesetzt und wieder zurück in die Fabrik geschickt. Die Fabrik war jetzt wichtig für den Führer und Fritz war wichtig für die Fabrik. Fritz war Schlosser und hielt die Maschinen in Gang. Mit den Maschinen wurden früher Blechdosen hergestellt, seit Dezember 1939 produzierte die Fabrik allerdings nur noch Munition für die Truppen. Die Maschinen liefen Tag und Nacht. Wenn eine Maschine ausfiel, musste Fritz sie reparieren. Der Bedarf war enorm. Fritz erzählte mir manchmal, wie viel sie an einem Tag fabrizierten und ich fragte mich im Stillen, wo diese ganzen Patronen verschossen werden sollten.

An jenem Januartag kam Fritz erst spät abends von der Fabrik nach Hause. Er ging erst ins Bad und dann ins Schlafzimmer. Ich wartete in der Küche mit der fertigen Kartoffelsuppe auf ihn und da er nicht kam, rief ich nach ihm. Als er nicht antwortete, schaute ich nach. Mein Schrecken war groß, als ich ihn auf dem Bett entdeckte. Er lag auf dem Rücken, die Augen starr an die Decke gerichtet. Seine Arme und Beine zuckten schnell und unkontrolliert. Ich sprach ihn an, flehte ihn an, fragte ihn, was er habe. Er nahm mich nicht zur Kenntnis. Lag da und zuckte wild. Etwa zwei Minuten lang ging das so, dann beruhigten sich seine Beine und Arme langsam wieder. Bis er ganz ruhig im Bett lag. Seine Augen bewegten sich wieder. Er drehte seinen Kopf zu mir und sah mich an. Ich fragte ihn, was sei. Nichts, gab er mir zur Antwort. Ich solle mir keine Gedanken machen. Er blieb noch einen Moment liegen, dann kam er und aß seine Suppe. Erst viel später habe ich erfahren, dass der Vorgesetzte von Fritz, Eduard Propofski, Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt hatte, um Fritz vom Dienst bei der Wehrmacht fernzuhalten.

 

20. Dezember 2007, 12:45 Uhr

Während Till vor die Tür ging, um frische Luft zu schnappen und sich zu überlegen, wie er die lateinische Botschaft am schnellsten übersetzt bekam, setzten sich Siebels und Petri in einem der Gästezimmer der Villa mit der Haushälterin Frau Bromowitsch zusammen. Sie schien sich vom ersten Schock etwas erholt zu haben, es war wieder Farbe in ihr blasses Gesicht zurückgekehrt.

„Geht es Ihnen wieder etwas besser?“, erkundigte Siebels sich rücksichtsvoll. Erneut antwortete sie nur mit einem stummen Nicken.

„Wie lange arbeiten Sie schon für die Familie Liebig?“, erkundigte sich Siebels.

„Seit über vierzig Jahren.“

„Das ist eine lange Zeit. Was genau sind Ihre Aufgaben? Sind Sie jeden Tag hier?“

„Von Montag bis Samstag, ja. Sonntags habe ich frei. Ich mache viel. Kümmere mich um den Haushalt. Ich putze, sauge, wasche und kaufe ein.“

„Der Mann, den Sie heute Morgen im Zimmer gesehen haben, kennen Sie den?“

„Nein. Den habe ich noch nie gesehen.“

„Wohnte Magdalena Liebig hier bei ihren Eltern im Haus?“

Frau Bromowitsch nickte wieder stumm zur Bestätigung.

„Wie alt war sie?“

„Magdalena war fünfundvierzig Jahre alt.“ Frau Bromowitsch fing leise an zu schluchzen.

„Hat sie immer hier gewohnt? Ist sie ledig?“

„Ja, sie ist ledig und sie hat immer hier bei ihren Eltern gewohnt.“

„Hatte sie einen Freund?“

„Nein, keinen Freund. Sie war krank. Deswegen wohnte sie auch noch in ihrem Elternhaus. Hier fühlte sie sich sicherer. Nicht so einsam. Ihre Eltern sind zwar selten zu Hause, aber wenigstens in den Nächten war Magdalena unter ihrer Obhut. Am Tag war ich da und Dr. Breuer kam auch regelmäßig und schaute nach ihr. Dr. Breuer ist der Hausarzt der Familie.“

„Was für eine Krankheit hatte Magdalena?“

Wieder schluchzte Frau Bromowitsch und Petri reichte ihr ein Taschentuch. Sie schniefte in das Tuch, schaute dann mit Tränen in den Augen zu Siebels. „Magdalena litt unter epileptischen Anfällen. Früher war es ziemlich schlimm. In den letzten Jahren ist es besser geworden. Sie bekam neue Medikamente. Aber trotzdem wurde sie immer wieder von schlimmen Anfällen heimgesucht.“

Siebels schaute verwundert zu Petri. Laut Petri hatte der unbekannte nackte Mann epileptische Anfälle gehabt, als die Polizei eintraf.

„Hatte Magdalena Kontakt zu anderen Menschen, die unter der gleichen Krankheit litten?“

Wieder ging der Antwort ein stummes Kopfnicken voraus. „Ja, Magdalena besuchte seit Jahren eine Selbsthilfegruppe. Einmal im Monat ging sie dorthin. Das tat ihr gut. Dort konnte sie über ihre Probleme sprechen. Nicht nur über die Krankheit.“

„Könnte der nackte Mann aus dieser Gruppe stammen?“

Jetzt schaute sie Siebels stumm an, ohne dabei zu nicken. Nach einer Weile zuckte sie mit den Schultern. „Es wäre möglich. Ich habe im Laufe der Jahre einige ihrer Freunde aus dieser Gruppe kennen gelernt. Aber diesen Mann nicht. Ich kann es aber nicht ausschließen.“

„Es gab keine Einbruchsspuren im Haus. Wir gehen zunächst davon aus, dass Magdalena den Mann kannte und hereingelassen hat. Spricht Ihrer Meinung nach etwas dagegen?“

„Magdalena war ängstlich und scheu. Sie hätte keine fremden Männer ins Haus gelassen. Wenn er nicht gewaltsam eingedrungen ist, muss Magdalena ihn gekannt haben. Vielleicht gehört er wirklich zur Gruppe. Das fragen Sie am besten Dr. Breuer.“

„Ja, das werden wir tun. Sie haben sicherlich seine Telefonnummer und Adresse?“

„Ja, natürlich.“

„Erzählen Sie mir aber zuerst bitte ganz genau, wie das heute Morgen war, als sie hergekommen sind.“

„Ich kam kurz vor neun. Alles war normal. Ich habe erst geläutet. Drei Mal kurz hintereinander. Das mache ich immer so, wenn Magdalena allein im Haus ist. Sie weiß dann, dass ich es bin. Ich warte immer noch einen Moment und schließe dann mit meinem Schlüssel auf. Nachdem ich heute aufgeschlossen hatte, habe ich meinen Mantel an die Garderobe gehängt und laut guten Morgen gerufen. Normalerweise kommt dann von irgendwoher im Haus eine fröhliche Antwort. Heute Morgen blieb es aber still. Ich dachte, sie wäre vielleicht im Bad. Aber dann sah ich die Kleidungsstücke von ihr herumliegen. Sie ist eigentlich sehr ordentlich. Das machte mich stutzig. Ich rief wieder nach ihr. Es kam keine Antwort. Erst dann entdeckte ich die roten Flecken. Ich sah mich genauer um. Ich hatte keine Zweifel daran, dass es Blutspuren waren. Ich schaute erst in das Zimmer von Magdalena. Aber das war leer und das Bett unbenutzt. Dann ging ich nach oben. Ich machte Licht im Flur und sah dann deutlich die Blutspuren aus dem Schlafzimmer ihrer Eltern. Die Tür war zu. Ich öffnete sie. Zuerst sah ich Magdalena auf dem Bett liegen. Ich schrie. Dann erst entdeckte ich diesen nackten Mann. Zuerst sah ich ihn im Spiegel. Oben auf dem Spiegel standen diese Wörter und unter diesen Wörtern sah ich das Spiegelbild des Mannes. Er saß neben dem Bett an die Wand gelehnt. Ich schrie wieder. Er saß mit weit aufgerissenen Augen da und starrte auf den Spiegelschrank. Ich glaube, er starrte auf das, was da geschrieben stand. Dann bin ich runter gerannt. Fast wäre ich die Treppen herabgestürzt. Ich hatte Angst, dass der Mann mir hinterherrennt. Aber er blieb im Zimmer. Ich wählte die Notrufnummer und rannte mit dem schnurlosen Telefon aus dem Haus. Bis nach vorne zur Straße. Dort habe ich auf die Polizei gewartet und das Haus im Auge behalten. Die Polizei war schnell da. Erst ein Wagen, dann kam noch einer. Dann kamen viele. Alle mit Sirene und Blaulicht. Es war wie in einem Film. So unwirklich. Verstehen Sie das?“

„Ja, das verstehe ich sehr gut. Seit wann sind Herr und Frau Liebig außer Haus?“

„Seit zehn Tagen. Herr Liebig hat einen geschäftlichen Termin in den USA. Anschließend wollte er mit seiner Frau über Weihnachten und Sylvester seinen Urlaub dort verbringen. Die beiden machen ja selten Urlaub. Immer sind sie für die Firma da. Außerdem wollten sie Magdalena nicht über einen längeren Zeitraum alleine lassen. Manchmal sind sie mit Magdalena verreist. Aber immer nur für ein paar Tage, meistens an die Ostsee. Das Klima dort tat Magdalena gut. Ihren Eltern natürlich auch.“

„Erzählen Sie mir bitte etwas mehr über die Familie. Über die Familie Liebig und die Familie Arenz. Wer gehört alles dazu? Wer hat welche Aufgaben im Unternehmen?“

 

Till hatte sich zu den Streifenbeamten vor der Villa gesellt und noch einen heißen Tee ohne Rum mit ihnen getrunken. Nach einer kurzen Unterhaltung betrachtete er sich wieder den Zettel, auf dem er die Worte vom Spiegel notiert hatte. Kurz entschlossen rief er seine Freundin Johanna an. Johanna hatte ihr Medizinstudium vor einigen Wochen beendet. Ihr musste er jetzt sowieso schonend beibringen, dass der geplante Trip in die Sonne auf unbestimmte Zeit verschoben werden musste. Da konnte er sie gleich nach ihren lateinischen Kenntnissen fragen. Er hielt sein Handy einige Minuten reglos in der Hand, bevor er ihre Nummer wählte. Das schlechte Gewissen plagte ihn. Nachdem er und Johanna in der Vergangenheit einige Krisen durchlebt hatten und die Beziehung eigentlich schon gescheitert war, hatten die beiden sich nach einer kurzen Trennung doch noch einmal zusammengerauft. Seit einem halben Jahr waren sie wieder ein Herz und eine Seele und Till spielte mit dem Gedanken, seiner Johanna an Weihnachten auf einer sonnigen Insel einen romantischen Heiratsantrag zu machen. Immerhin war sie angehende Ärztin und er könnte auch bald befördert werden. Jedenfalls wenn Schneider vom Schießstand bald in den vorzeitigen Ruhestand ging und seine Beurteilungen dort wieder besser wurden. Auf keinen Fall würde er aufhören, Jagd auf Oma bin Laden zu machen. So viel stand für ihn fest. Das war eine Frage der Ehre. Er rief Johanna an und kam ohne Umwege auf den Spiegelspruch zu sprechen. Mühsam las er ihr die Worte auf seinem Notizblock vor. Johanna hatte keine Ahnung, wovon er sprach. Till erzählte von Dr. Petri, nach dessen Meinung es etwas Religiöses sein müsste.

„Etwas Religiöses?“ fragte Johanna zweifelnd nach. „Und warum fragst du dann mich?“

„Ich dachte, du hast Abitur und kannst Latein. Mediziner müssen doch Latein können. So wie Polizisten die Verkehrsregeln kennen müssen.“

„Wie du bereits richtig erkannt hast, bin ich Medizinerin. Bauchspeicheldrüse kann ich vielleicht auf Latein, aber dein kavendum Dingsbums ist weder eine Drüse noch ein Knochen noch sonst was Medizinisches. Probiere es mal in der katholischen Kirche, da spricht man auch Latein.“

„Danke für den Tipp. Urlaub wird übrigens ausfallen müssen. Jedenfalls für dieses Jahr. Aber den holen wir so schnell wie möglich nach. Versprochen.“

„Dein Versprechen in Jensens Ohr. Wenn ich den Job im Krankenhaus bekomme, wird das so schnell nix. Würde es dich stören, wenn ich jetzt ohne dich fliege?“

„Wie jetzt? Wieso ohne mich?“

„Mit einer Freundin. Ihr Mann kann auch nicht. Frauenurlaub.“

„Du willst mich über Weihnachten alleine hier lassen? Bei der Kälte?“

„Exakt. Du musst doch wieder einen Mörder jagen und hast sowieso keine Zeit. Wahrscheinlich bist du mit Steffen die ganzen Feiertage auf Achse. Oder etwa nicht?“

„Na ja. Schaut leider nicht gut aus. Tote in Villa. Reiche Leute, heikler Fall.“

„Also buche ich den nächsten Flug. Das wird jetzt eh schon schwierig genug, noch etwas Erschwingliches zu bekommen.“

„Na gut. Du hast es dir verdient. Erzähle mir heute Abend, was du gebucht hast. Wahrscheinlich wird es spät. Bye.“

„Ich mache Spaghetti, wenn du kommst. Ciao.“

Heiratsantrag ade, dachte Till und hatte im gleichen Moment eine Idee, die ihn gedanklich wieder voll auf den Fall Liebig zurückkatapultierte. Er tippte die Nummer der Auskunft in sein Handy und ließ sich mit der katholischen Telefonseelsorge in Frankfurt verbinden. Kurz darauf sprach er mit einer Frau, die ihn nach seinem Problem fragte.

„Cavendum ergo ideo malum desiderium quia mors secus introitum delectationis posita est”, las er stockend von seinem Zettel ab.

„Do you speak German?“, fragte die Frau am anderen Ende der Leitung.

„Yes. Only German. This is my problem.”

“Why is this your problem?”

“Weil ich kein Latein kann. Ich dachte, Sie sind die katholische Kirche und können mir helfen.“

„Ich bin Frau Lehmann. Bitte blockieren Sie nicht die Leitung, wenn Sie keine Hilfe benötigen. Andere Menschen haben wirklich Probleme und hoffen auf ein offenes Ohr. Gerade jetzt um die Weihnachtszeit.“

Till sprach daraufhin Klartext, stellte sich als Kriminaloberkommissar Krüger vor und fragte, wo er mit seinem lateinischen Text vorstellig werden könnte.

„Da gehen Sie am besten in die Innenstadt, in die Liebfrauenkirche. Dort fragen Sie nach Bruder Jakobus. Er ist dort im Kapuzinerkloster tätig. Er kann Ihnen bestimmt weiterhelfen.“

Till bedankte sich und ging zurück in die Villa. Er war mittlerweile bis auf die Knochen durchgefroren und bemitleidete die Polizisten, die untätig herumstanden. Anscheinend wurden sie nicht mehr benötigt, bekamen aber auch keinen Befehl zum Abmarsch. Vielleicht befürchtete Jensen noch einen Presseauflauf, der abgewehrt werden musste.

Druckversion | Sitemap
© Autor Stefan Bouxsein