Leseprobe:

Der böse Clown

Till klopfte mit den Fingerknöcheln gegen die Wohnwagentür von Leila. Leila war 22 Jahre alt und arbeitete beim Zirkus Zitrone als Schlangenfrau. Kontorsion war die Kunst, den eigenen Körper stark verbiegen zu können. Man sagte auch Kautschuk dazu oder nannte die Künstler Gummimenschen.

Die Wohnwagentür wurde von innen geöffnet. Leila stand im Eingang zu ihrem Wohnwagen und schaute Till fragend an. Till war für einen Moment sprachlos, weil Leila splitternackt vor ihm stand und keine Anstalten machte, sich etwas überzuziehen oder ihren Körper hinter der Tür zu verbergen. Schließlich zog Till seinen Ausweis aus der Tasche, hielt ihn Leila entgegen und stellte sich als Kommissar Till Krüger von der Mordkommission Frankfurt vor. Leila nickte stumm und bat Till zu sich in den Wohnwagen. Till stieg die drei Stufen hinauf und betrat den Wagen. Leila blieb neben ihm stehen und machte weiterhin keine Anstalten, sich etwas anzuziehen. In ihrem Bauchnabel funkelte ein winziges Steinchen. Um ihre Hüften hing ein goldfarbenes dünnes Kettchen. Das gewellte dunkle Haar fiel ihr weit über die Schultern. Im Intimbereich war sie glatt rasiert.

„Ich muss Ihnen einige Fragen stellen. Sie sollten sich besser etwas anziehen“, schlug Till ihr vor.

„Das geht nicht. Fragen Sie ruhig“, gab ihm Leila seelenruhig zur Antwort.

Till musste schlucken und fragte sich, wo er hier gelandet war. Die junge Frau war wunderschön. Anmutig stand sie nackt vor Till und zeigte keinerlei Scheu. Till konnte seine Augen nicht von dem makellosen Körper abwenden. So konnte er unmöglich seine Befragung durchführen. „Warum geht das nicht?“, fragte er verblüfft.

„Es war sein Wunsch, dass ich in dieser Woche nichts trage, solange ich mich in meinem Wohnwagen befinde. Ich möchte seinen Wunsch erfüllen.“ Leila klang wehmütig,

„Wessen Wunsch war das?“, fragte Till und klang ziemlich perplex.

Leila drehte sich zu dem kleinen Fenster und blickte aus dem Wohnwagen hinaus zum Zelt. Till sah sie nun von hinten und der Anblick raubte ihm den Atem.

„Es war der Wunsch vom Boss“, seufzte Leila.

„Vom Clown? Von dem Clown, der erschlagen wurde?“

„Finden Sie seinen Mörder. Er muss hart bestraft werden.“

„Deswegen bin ich jetzt hier. Das mit der Bestrafung übernimmt dann später der Richter. Es wäre mir aber trotzdem lieber, wenn Sie sich etwas überziehen.“

Leila drehte sich wieder zu Till und blickte ihn mit ihren dunklen Augen an. „Ich habe nichts zu verbergen. Weder meinen Körper noch einen Mord. Also stellen Sie mir Ihre Fragen.“

„Dann erklären Sie mir bitte doch zunächst einmal, warum Sie den Wunsch des Clowns erfüllen und sich nichts anziehen.“

„Weil ich ihm gehorche. Selbst über seinen Tod hinaus. Wir haben ihm hier alle gehorcht. Er war der Boss. Er war ein guter Boss.“

Till benötigte einen Moment, bis er das Gehörte in seinem Gehirn verarbeitet hatte. Scheinbar war dieser Clown kein gewöhnlicher Clown gewesen. Und scheinbar waren diese Zirkusleute hier ziemlich merkwürdig. „Und was hätte der Clown mit Ihnen gemacht, wenn Sie seinen Wunsch nicht erfüllt hätten?“

Leila verschränkte die Arme vor dem Bauch. „Er hätte mich bestraft. Aber ich habe ihm nie einen Wunsch abgeschlagen.“

„Welche Strafen hat der Clown denn verhängt, wenn ihm ein Wunsch abgeschlagen wurde?“

Leila schien über die Antwort zu dieser Frage erst etwas intensiver nachdenken zu müssen. „Er hatte ganz unterschiedliche Methoden der Bestrafung. Missachtung war eine seiner Strafen. In schlimmen Fällen hat er seinen Bann ausgesprochen. Wenn er über einen aus unserer Gruppe seinen Bann ausgesprochen hat, wurde derjenige von der Gruppe wie ein Aussätziger behandelt. Wir durften nicht mit ihm sprechen. Oder mit ihr, je nachdem. Er oder sie musste alle Mahlzeiten allein zu sich nehmen. Nicht einmal Blickkontakt war erlaubt.“

„Komische Sitten haben Sie hier“, bemerkte Till und war sichtlich irritiert. „Steht denn zurzeit jemand unter dem Bann des Clowns?“

Leila nickte. „Ja. Henry, der Jongleur.“

„Warum steht Henry unter dem Bann?“

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© Autor Stefan Bouxsein