Leseprobe:

Die Kronzeugin

Montag, 6. Oktober 2014

Es war der erste Arbeitstag für Paul Lemgo in seiner neuen Funktion als Leiter der Frankfurter Mordkommission. Paul Lemgo saß im Büro des Polizeipräsidenten. Es war 8.00 Uhr morgens. Der Polizeipräsident saß vor einem aufgeräumten Schreibtisch. Nur eine Akte lag darauf.

„Ihre Akte ist nicht sehr aussagekräftig“, bemerkte der Polizeipräsident und schaute Paul Lemgo misstrauisch an.

„Vielleicht müssen Sie mehr zwischen den Zeilen lesen“, erwiderte Lemgo ungerührt.

„Wenn ich das mache, bekomme ich Bauchschmerzen. Ich habe noch nie eine Akte von einem Polizisten gesehen, in der fast alles geschwärzt ist. Die letzten fünf Jahre Ihrer beruflichen Laufbahn unterliegen der absoluten Geheimhaltung. Sind Sie sicher, dass Sie in der Lage sind, ein Team der Mordkommission zu führen?“

„Mit der Frage haben sich zuvor schon andere Leute beschäftigt. Ich habe den Job bekommen.“

„Ich weiß“, seufzte der Polizeipräsident. „Sie wurden uns von ganz oben empfohlen. Oder besser gesagt: Sie wurden uns aufgezwungen.“

„Manche Leute muss man halt zu Ihrem Glück zwingen“, erwiderte Lemgo und saß dem Polizeipräsidenten dabei sehr entspannt gegenüber.

„Ich nehme an, Sie haben die letzten fünf Jahre im Ausland verbracht?“, fragte der Polizeipräsident und schlug die Akte seines Gegenübers auf.

„Ich nehme an, Sie wissen, dass ich darüber keine Auskunft geben darf?“

Der Polizeipräsident klappte die Akte wieder zu und ließ sie auf den Tisch fallen. „Warum habe ich bloß das Gefühl, dass mir mit Ihnen eine tickende Zeitbombe untergejubelt wurde?“, seufzte er.

Ein eingehender Anruf auf dem Apparat des Präsidenten ersparte Paul Lemgo eine Antwort. Scheinbar wartete schon Arbeit auf den neuen Hauptkommissar bei der Mordkommission. Der Präsident blickte Lemgo an und sagte seinem Gesprächspartner am Telefon, dass sich der zuständige Kommissar gleich auf den Weg machen würde.

„Ihr erster Fall“, sagte der Präsident knapp, nachdem er das Gespräch beendet hatte. „Ein Mord an einem Restaurantbesitzer. Ein italienisches Edelrestaurant in der Innenstadt. Das Dolce Vita. Frau Forster wartet in Ihrem Büro auf Sie.“

Paul Lemgo betrat zwei Minuten später sein neues Büro. Er hatte es vor seinem Antritt beim Polizeipräsidenten das erste Mal betreten und nur fünf Minuten darin verbracht. Es war ein geräumiger Raum mit einer Zwischentür zu einem größeren Büro. Dem Büro seines neuen Teams. Zum Team gehörte Julia Forster. Sie war 29 Jahre alt, hatte blonde lange Haare und war groß gewachsen.

„Herr Lemgo?“, fragte sie, als Lemgo das Büro betrat.

Lemgo reichte ihr die Hand. „Paul Lemgo. Wo sind die anderen?”

„Samuel König fährt von zuhause direkt zum Tatort.“

„Und der Rest?“

„Welcher Rest?“

„Das Team sollte aus vier bis fünf Leuten bestehen.“ Lemgo schaute ungläubig in das große Büro. Es gab vier Arbeitsplätze, von denen nur einer besetzt war. Die Handtasche von Julia Forster lag auf dem Schreibtisch.

„Keine Ahnung. Bisher gibt es nur Samuel und mich. Wir haben beide auch erst vor einer Woche unseren Dienst hier angetreten.“

„Das fängt ja gut an“, stöhnte Lemgo. „Machen wir uns auf den Weg. Ich hoffe, Sie haben wenigstens schon einen Dienstwagen.“

„Haben Sie denn keinen?“

„Kennen Sie sich in Frankfurt aus?“, stellte Lemgo eine Gegenfrage.

„Ich bin hier aufgewachsen“, antwortete Julia Forster, während sie mit schnellen Schritten zum Parkplatz lief.

 

Steffen Siebels kam gerade vom Kindergarten zurück, wo er seinen Sohn Dennis abgeliefert hatte. Nun stand er vor dem Reihenhäuschen im Frankfurter Stadtteil Eschersheim, das er vor drei Wochen mit seiner Familie bezogen hatte. An der kleinen Mauer, die sein Grundstück vom Bürgersteig trennte, hing seit gestern das nagelneue Messingschild. Steffen Siebels - Private Ermittlungen.

Siebels blieb einen Moment davor stehen und genoss den Anblick. Klienten hatte er zwar noch keine, aber er wollte es ja auch langsam angehen lassen. Es waren erst drei Monate vergangen, seitdem er seinen Dienst bei der Frankfurter Mordkommission aufgegeben und sich in das Leben eines Privatiers gestürzt hatte. Dafür ging seine Frau Sabine nun wieder zum Dienst. Sie war Kommissarin bei der Milieukriminalität und hatte nun nach einer mehrjährigen Baby- und Erziehungspause mit ihrem Mann getauscht. Siebels hatte seinen Entschluss, den Dienst zu quittieren und Vollzeitpapa und Teilzeitdetektiv zu werden, schon gefasst gehabt, als ihm die Leitung der gesamten Mordkommission angeboten worden war. Nach reiflicher Überlegung hatte er das aber abgelehnt. Bisher bereute er diesen Entschluss noch nicht. Er stand noch vor seinem neuen Messingschild, als ein roter Alfa Romeo vor seinem Haus anhielt. Eine Frau stieg aus dem Wagen und kam auf ihn zu.

„Sind Sie Herr Siebels? Der Privatdetektiv?“

Siebels nickte und betrachtete neugierig die Frau. Sie war Anfang dreißig, hatte schwarzes Haar, einen blassen Teint und haselnussbraune Augen. „Ja, der bin ich. Ich wollte gerade ins Haus gehen. Was kann ich für Sie tun?“

„Sie haben doch bestimmt auch ein Büro im Haus, wo ich mit Ihnen sprechen kann, oder?“

„Natürlich, kommen Sie.“ Siebels führte seine Besucherin ins Haus und in sein Büro. „Kann ich Ihnen etwas anbieten? Einen Kaffee?“

„Nein, danke.“ Die Frau setzte sich auf den Besucherstuhl und weihte das neue Möbelstück ein. Siebels nahm auf der anderen Seite des Schreibtisches Platz.

„Wie sind Sie auf mich gekommen?“, fragte Siebels neugierig.

„Sie waren mal Hauptkommissar bei der Kripo“, sagte die Frau ihm auf den Kopf zu.

Siebels nickte. „Bis vor Kurzem, ja.“

„Sie hatten vor einiger Zeit einen interessanten Fall. Dabei haben Sie dem organisierten Verbrechen einen empfindlichen Schlag zugeführt.“

Siebels runzelte die Stirn und beäugte seine Besucherin jetzt etwas misstrauischer. Sie sprach anscheinend von dem Fall Sabine Lehmann. Der Fall begann damals ganz unspektakulär. Sabine Lehmann hatte ihren Lebenspartner erschlagen. Eine Beziehungstat, die keiner großen Aufklärung mehr bedurfte. Aber Siebels fing an zu graben und er grub die internationale Beratungsgesellschaft World Consulting aus, die eng mit dem organisierten Verbrechen verbandelt war. Sabine Lehmann war eine Schlüsselfigur bei World Consulting gewesen, die Verbindungsfrau zwischen einer renommierten Unternehmungsberatung und der Mafia. Letztendlich hatte das BKA sie aus den Fängen der Mordkommission gezogen und als Kronzeugin eingesetzt.

„Sprechen Sie von World Consulting?“, vergewisserte sich Siebels.

Die Frau nickte unmerklich. „Ich hatte vor einigen Jahren Kontakt mit Frau Lehmann.“

Siebels wurde hellhörig. „Handelte es sich dabei um illegale Geschäfte?“

„Ich habe damals meinen Schwager unterstützt. Er betreibt verschiedene Geschäfte. Unter anderem ein Wettbüro.“

Siebels erinnerte sich, dass Sabine Lehmann auch bei der Manipulation von Fußballspielen beteiligt gewesen war. Vor allem in osteuropäischen Ligen war sie als Beraterin für ihre Klientel tätig gewesen. Spieler wurden entweder bestochen oder massiv bedroht, um die Ergebnisse ihrer Mannschaften zu manipulieren. Sabine Lehmann trat als Vermittlerin zwischen der Wettmafia und den Spielern auf.

 „Was wollen Sie jetzt von mir?“ Siebels wurde immer neugieriger.

„Ich möchte Ihre Dienste als Privatdetektiv in Anspruch nehmen.“ Die Frau fixierte Siebels mit einem durchdringenden Blick.

„Sind Sie noch in diesem Milieu tätig? Ich übernehme keine Aufträge für die Unterwelt“, wehrte Siebels ab.

„Darf ich rauchen?“

Siebels war seit einer Woche Nichtraucher. Aber in der Schublade hatte er ein Notfallpäckchen und einen Aschenbecher parat liegen. Er stellte den Aschenbecher vor seiner Besucherin auf den Schreibtisch. Die Frau kramte ein Päckchen Zigaretten aus ihrer Handtasche hervor. Siebels gab ihr Feuer. Sie blies den Rauch Richtung Decke und fing an, von ihrem Anliegen zu berichten.

„Mein Name ist Maria Serano. Ich bin die Schwester von Patricia Silotti. Patricia ist mit Silvio verheiratet. Die beiden haben einen Sohn. Marco. Er ist acht Jahre alt. Ich liebe meinen Neffen Marco, als wäre er mein eigenes Kind. Ich selbst kann leider keine Kinder bekommen. Vor zwei Stunden wurde Marco entführt. Ich möchte Sie beauftragen, ihn aufzuspüren und mir zu übergeben.“ Die Frau zog nervös an der Zigarette.

Siebels schaute seine Besucherin verwundert an. „Vor zwei Stunden? Gibt es schon eine Lösegeldforderung? Haben Sie oder die Eltern die Polizei schon informiert?“

 „Nein“, sagte Maria Serano und senkte ihren Blick. „Es handelt sich nicht um einen klassischen Entführungsfall, bei dem die Entführer ein Lösegeld fordern.“

„Sondern?“

„Meine Familie stammt aus Sizilien“, fuhr Maria Serano stockend fort. „Es handelt sich um eine sogenannte familiäre Angelegenheit. Mein Schwager würde niemals die Polizei einschalten.“

Siebels atmete tief durch. Es fiel ihm schwer, jetzt nicht auch zur Zigarette zu greifen. „Es tut mir leid“, sagte Siebels nach einer kurzen Bedenkpause. „Wie bereits gesagt, übernehme ich keine Aufträge für die Unterwelt. Schon gar nicht für die Mafia.“

„Deswegen habe ich mich für Sie entschieden. Ich habe mich von der Familie gelöst. Und ich will meinen Neffen da rausholen. Er ist ein guter Junge.“ Maria Serano sah Siebels jetzt hilfesuchend an. „Ich zahle gut und gebe Ihnen einen Vorschuss.“

„Warum wurde Ihr Neffe entführt? Woher wissen Sie, dass er entführt wurde, wenn es keine Lösegeldforderung gibt?“

„Ich weiß es. Mehr kann ich Ihnen dazu nicht sagen.“

 „Ich wüsste nicht, wie ich Ihnen da behilflich sein könnte“, seufzte Siebels.

„Sie können Kontakt mit Sabine Lehmann aufnehmen.“

„Was hat sie damit zu tun?“

„Nichts. Aber sie kennt meinen Bruder, sie kennt seine Geschäfte, sie kennt seine Geschäftspartner, sie kennt die Familie.“

„Ich brauche Bedenkzeit.“

„Ich habe keine Zeit. Ich weiß, dass die Entführung meines Neffens eine spontane Aktion war. Das war nicht geplant und nicht vorbereitet. Sie werden ihn töten.“

Siebels rieb sich die Schläfen. Als er sich entschlossen hatte, nebenbei ein bisschen Privatdetektiv zu spielen, dachte er an Beschattungen von untreuen Ehemännern oder krankgeschriebenen Angestellten, die kerngesund anderen Tätigkeiten nachgingen. Nun saß diese Frau vor ihm und wollte ihn in einen Mafiakrieg hineinziehen. Mit seinem Vorsatz, sich hauptsächlich um die Erziehung seines Sohns zu kümmern, war das überhaupt nicht zu vereinbaren. Andererseits ging es um das Leben eines Kindes. Konnte er da den Auftrag einfach ablehnen?

„Sie wissen also mehr darüber. Warum wollen Sie mir die Hintergründe verheimlichen?“

„Mehr kann ich Ihnen im Moment nicht dazu sagen. Es tut mir leid. Sprechen Sie mit Sabine Lehmann. Bitte.“

 „Also gut, ich werde versuchen mit Sabine Lehmann Kontakt aufzunehmen“, teilte er Maria Serano seine Entscheidung mit. „Je nachdem, was dabei herauskommt, werde ich mich dann mit dem Fall beschäftigen oder auch nicht. Wie kann ich Sie erreichen?“

Maria Serano schrieb ihre Mobilnummer auf einen Zettel und reichte ihn Siebels. Dann fischte sie einen Umschlag aus ihrer Handtasche und legte ihn auf den Schreibtisch. „Die Anzahlung. Sie können mich jederzeit anrufen.“ Maria Serano erhob sich. Siebels begleitete sie zur Haustür. Als er in sein Büro zurückkam, öffnete er den Umschlag. Er zählte 10.000 Euro. Er widerstand erneut dem Drang, sich eine Zigarette anzustecken. Stattdessen rief er beim LKA in Wiesbaden an. Dort war sein ehemaliger Partner bei der Frankfurter Mordkommission, Till Krüger, nun als Hauptkommissar bei der Aufklärung von schweren Verbrechen zuständig. Till hatte gleichzeitig mit Siebels die Mordkommission verlassen. Das LKA war durch den Fall Sabine Lehmann auf Till aufmerksam geworden und hatte ihn abgeworben.

„Hallo, Till“, begrüßte Siebels seinen ehemaligen langjährigen Partner.

„Ach, nee. Der Herr Privatier persönlich. Hast du etwa schon Langeweile und suchst jemanden zum Plaudern?“

„Ganz im Gegenteil. Ich bin wieder mittendrin im Geschehen. Und wie läuft es bei dir?“

„Ziemlich trocken. Ich sitze jetzt hauptsächlich im Büro und komme kaum noch auf die Straße raus. Ich weiß bald gar nicht mehr, wie richtige Polizeiarbeit draußen überhaupt geht.“

Siebels lachte. „Zur Not kannst du ja immer noch mich fragen. Aber jetzt hätte ich mal eine Frage an dich.“

„Schieß los.“

„Hast du eine Ahnung, was aus unserer kalten Braut geworden ist?“

Am anderen Ende der Leitung blieb es einen Moment still. „Sabine Lehmann?“, fragte Till dann zögerlich.

„An andere kalte Bräute kann ich mich nicht erinnern.“

„Warum willst du das wissen?“

„Rein beruflich. Ich würde mich gern mit ihr unterhalten. In meiner Funktion als Privatdetektiv.“

„Du hast dich nicht verändert“, stöhnte Till. „Was für Leichen buddelst du denn gerade wieder aus?“

„Ich will mich doch nur mal nett mit einer alten Bekannten unterhalten. Vielleicht hat sie ja noch den einen oder anderen Traum, von dem sie mir erzählen möchte?“ Als Siebels damals Sabine Lehmann wegen des Mordes an ihrem Lebenspartner, einem Enthüllungsjournalisten, befragen wollte, erzählte sie ihm nur von ihren völlig verworrenen Träumen. Erst viel später kam Siebels dahinter, dass es sich dabei um verschlüsselte Geständnisse ihrer kriminellen Machenschaften handelte.

„Sabine Lehmann gibt es nicht mehr. Sie hat die Kronzeugenregelung voll ausgeschöpft und lebt unter einer neuen Identität. Die Frau steht ganz oben auf der Abschussliste der Mafia.“

„Genau deswegen würde ich gerne mal mit ihr plaudern.“

„Mensch, Siebels. Du bringst mich in Teufels Küche. Wenn ich dir sage, wie sie jetzt heißt, begehe ich Geheimnisverrat.“

„Ihr neuer Name interessiert mich doch gar nicht. Ich treffe mich irgendwo mit ihr, wir sitzen wie zufällig auf einer Parkbank nebeneinander und reden ein paar Sätze. Dann trennen sich unsere Wege wieder. Kannst du das arrangieren? Ich würde dich nicht darum bitten, wenn nicht einiges davon abhängen würde.“

„Ich sehe, was ich tun kann. Ich melde mich bei dir.“

„Es wäre allerdings ziemlich eilig“, schob Siebels hinterher.

„Okay. Kein Telefonkontakt mehr. Ich lasse mir was einfallen.“

 

Julia Forster fuhr den zivilen Audi mit dem Blaulicht auf dem Dach und schaltete das Martinshorn nur bei Bedarf ein. Paul Lemgo saß auf dem Beifahrersitz. Das Restaurant war an der Fressgass angesiedelt.

„Wer hat den Mord gemeldet?“, erkundigte sich Lemgo, als Julia Forster den Wagen über die Fußgängerzone rollen ließ. Das Restaurant war bereits weiträumig mit Absperrband abgeriegelt. Mehrere Uniformierte standen vor dem rotweißen Band. Zwei Fahrzeuge der Spurensicherung, mehrere Streifenwagen und der Mercedes von Samuel König verstopften die Fußgängerzone.

„Jemand vom Personal“, antwortete Julia Forster knapp und schaltete den Motor aus.

Lemgo zeigte den Beamten seinen Ausweis und ging schnurstracks in das Restaurant. Julia Forster folgte ihm. Die Leute von der Spurensicherung machten ihre Arbeit. Eine Leiche war nirgendwo zu sehen.

„Wo ist denn der Tatort?“, erkundigte sich Julia Forster bei einem der Spurensicherer.

Der Angesprochene deutete in den hinteren Teil des Restaurants. „Da hinten geht es die Treppe hoch zum Büro. Dort finden Sie das Opfer.“

Lemgo und Forster stiegen die schmale Treppe hinauf. Oben wurden sie von Samuel König empfangen.

„Hallo, Julia, da bist du ja endlich“, begrüßte er seine Kollegin.

Julia Forster deutete auf Paul Lemgo. „Herr Lemgo. Unser neuer Chef.“

„Schöne Scheiße“, murmelte Lemgo und sah an Samuel König vorbei.

„Freut mich auch“, erwiderte Samuel König und verdrehte die Augen.

„Vorstellen können wir uns ja auch später im Präsidium bei einer Tasse Kaffee“, schlug Julia Forster vor.

Lemgo betrachtete sich das Opfer aus der Nähe. Es handelte sich um einen etwa fünfzigjährigen Mann. Er trug einen maßgeschneiderten Anzug, der mit Blutflecken besudelt war. Auch sein sorgfältig gestutzter Vollbart war mit getrocknetem Blut verschmiert. Er saß auf einem Holzstuhl. Der Stuhl stand in der Mitte des Raumes. Das Gesicht des Toten war dem Fenster zugewandt. Arme und Beine waren mit Kabelbindern an den Stuhllehnen und Stuhlbeinen gefesselt. Ihm fehlten sieben Fingernägel. Alle fünf der linken Hand und die von Daumen und Zeigefinger der rechten Hand. Starke Strangulationsspuren am Hals, die obersten drei Knöpfe seines Hemdes waren abgerissen. Ihm fehlten zwei Schneidezähne, sein rechtes Auge war blutunterlaufen. Getötet worden war er durch einen Genickschuss.

„Wahrscheinlich mit Schalldämpfer“, mutmaßte Samuel König.

„Haben wir schon einen Todeszeitpunkt?“, wollte Lemgo wissen.

Die Gerichtsmedizinerin Anna Lehmkuhl stand direkt neben Lemgo. „Heute Nacht gegen zwei Uhr. Wie lange er zuvor gefoltert wurde, kann ich noch nicht sagen. Die Fingernägel wurden ihm anscheinend mit einer dafür vorgesehenen Zange gezogen. Sie befinden sich nicht am Tatort. Zwei Schneidezähne lagen auf dem Fußboden neben der Leiche.“

Lemgo betrachtete sich den toten Mann aus allernächster Nähe. „Der hat lange durchgehalten. Aber es hat ihm nichts genutzt. Am Ende hat er alles preisgegeben, was man von ihm wissen wollte.“

„Woher wollen Sie das wissen?“, fragte Julia Forster.

„Der, der das getan hat, versteht etwas von seinem Handwerk. Er hätte ihm auch die restlichen drei Nägel gezogen und ihm anschließend einzeln die Finger abgeschnitten, wenn er nicht geredet hätte. Haben wir in Frankfurt einen Mafiakrieg?“, fragte Lemgo in die Runde. Er erntete nur Schulterzucken. „Das fängt ja gut an“, stöhnte der neue Leiter der Frankfurter Mordkommission.

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© Autor Stefan Bouxsein