Leseprobe:

Die vergessene Schuld

Hauptkommissar Siebels saß vor einem aufgeräumten Schreibtisch. Es war fast 17:00 Uhr und eigentlich gab es nichts mehr zu tun. In den letzten Wochen waren kaum nennenswerte neue Fälle reingekommen. Einen großen Teil seiner angehäuften Überstunden hatte er bereits abgefeiert. Sein Kollege Till Krüger hatte das Büro schon vor fast einer Stunde verlassen. Siebels lehnte sich entspannt zurück und hoffte inständig, dass diese Ruhe vor dem nächsten Sturm noch ein paar Tage anhielt. In vier Tagen hatte er seinen Termin auf dem Standesamt. Noch vier Tage, dann würde er seiner Sabine endlich das lang ersehnte Ja-Wort geben. Und für den darauffolgenden Sonntag war die große Feier angesetzt. Einen Mordfall mit der Priorität „schnellstmögliche Aufklärung“ konnte er jetzt gar nicht gebrauchen. Oder einen besonders heiklen Fall, wie Staatsanwalt Jensen es immer nannte, wenn er zum Ausdruck bringen wollte, dass ab sofort Tag und Nacht ermittelt werde. Aber Jensen hatte schon seit Tagen nichts mehr von sich hören und sehen lassen. Siebels misstraute dem trügerischen Frieden. Gerade wollte er sich von seinem Stuhl erheben und den Feierabend einläuten, als Charly Hofmeier in Begleitung eines betagten Herrn das Büro betrat. Charly Hofmeier war der IT-Experte im Frankfurter Polizeipräsidium und stand dem erfolgreichsten Team der Frankfurter Mordkommission, Steffen Siebels und Till Krüger, bei besonders heiklen Fällen mit Rat und Tat zur Seite. Besonders hilfreich waren dabei seine speziellen Kenntnisse beim Einloggen in fremde Netzwerke und Rechner.

„Ich habe Besuch mitgebracht“, sagte Charly und zeigte auf den älteren Herrn. „Das ist Herr Silber. Er möchte einen Mord melden.“

Siebels drehte das Radio etwas leiser. „Dann setzen Sie sich doch bitte“, bat Siebels Herrn Silber und deutete auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch.

Herr Silber benutzte einen Gehstock und kam mit unsicheren Schritten näher. Charly blieb an der Tür stehen und gab Siebels mit einer eindeutigen Handbewegung zu verstehen, dass Herr Silber nicht mehr ganz klar im Kopf war.

„Sie möchten also einen Mord melden“, wiederholte Siebels, nachdem Herr Silber vor ihm Platz genommen hatte. Seinen Hut behielt er auf dem Kopf, den Gehstock stellte er zwischen seine Beine. Siebels bemerkte die falsch geknöpfte Hemdleiste und einige Kaffeeflecken auf der Weste, die Herr Silber über dem Hemd trug.

„Wer ist denn das Opfer?“, wollte Siebels wissen.

„Sie meinen, wer ermordet wurde?“, fragte Herr Silber mit lauter Stimme und drehte seinen Kopf dabei leicht zur Seite.

Siebels bemerkte das Hörgerät und sprach etwas lauter.

„Ja, wer wurde denn ermordet?“

„Na, die Juliane“, sagte Herr Silber, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt.

Charly stand noch im Türrahmen und freute sich schon auf das weitere Gespräch.

„Die Juliane“, wiederholte Siebels und kritzelte etwas auf einen Zettel. „Kennen Sie auch den Nachnamen?“

„Juliane Mangold“, sagte Herr Silber wie aus der Pistole geschossen.

Siebels schrieb den Namen auf. „Wissen Sie auch, wie alt diese Juliane Mangold war?“

„Wie alt? Hm. Zwanzig?“ Der alte Herr schaute Siebels fragend an.

„Einen Moment bitte, Herr Silber. Ich bin gleich wieder da.“ Siebels ging zu Charly und fragte ihn flüsternd, ob schon jemand die Identität dieser Juliane Mangold überprüft hätte.

„Ich habe es versucht. In Frankfurt gibt es zwei Frauen, die Juliane Mangold heißen, aber die erfreuen sich bester Gesundheit. Ich habe sie beide angerufen. Sie kennen auch Herrn Silber nicht.“

Siebels nickte und wollte sich wieder auf seinen Platz setzen, als er aus dem Radio eine Suchmeldung vernahm.

„Gesucht wird Herr Otto Silber. Herr Silber wird seit dem frühen Morgen vermisst. Er ist 84 Jahre alt und hat Schwierigkeiten, sich zu orientieren. Herr Silber ist vermutlich mit einem hellblauen Hemd, einer grauen Strickweste und einer dunkelblauen Hose bekleidet. Er trägt einen Hut und benutzt einen Gehstock. Herr Silber benötigt dringend Medikamente. Hinweise nimmt jede Polizeidienststelle in Frankfurt entgegen.“

Charly grinste über beide Ohren und zeigte Siebels den erhobenen Daumen. Fall gelöst, sollte das heißen.

„Erkundigst du dich bei den Kollegen, wo wir ihn abliefern können?“, fragte Siebels. „Wenn es nicht so weit weg ist, bringe ich ihn nach Hause.“

„Vermutlich ins Altenheim. Ich komme gleich wieder und sage dir Bescheid.“

„Wissen Sie auch, wer Juliane Mangold umgebracht hat?“, fragte Siebels, als er wieder auf seinem Platz saß.

Otto Silber schüttelte den Kopf. „Nein. Wer tut denn so etwas? Die Juliane hat keiner Menschenseele etwas zuleide getan.“ Otto Silber klang traurig. Eine Träne lief über seine faltige Haut.

„Haben Sie den Mord beobachtet?“, fragte Siebels.

Otto Silber schaute ihn verwundert an. „Nein. Ich habe nichts gesehen.“

„Aber woher wissen Sie denn, dass sie ermordet wurde?“

„Woher ich das weiß?“ Otto Silber runzelte die Stirn. „Irgendjemand hat es mir erzählt. Die Juliane ist tot. Alle haben es gesagt. Ihre Kollegen haben es doch auch gesagt. Sie sind doch Polizist, oder? Ein Inspektor, oder?“

„Ich bin ein Kommissar. Ein Kriminalhauptkommissar. Kriminalhauptkommissar Siebels. Aber meine Kollegen wissen nichts von einer ermordeten Juliane Mangold.“

Otto Silber schlug wütend mit seinem Stock auf den Boden. „Die lügen doch alle. Alles Lügner und Betrüger! Die stecken alle unter einer Decke. Aber ich lasse mich nicht belügen. Ich bin Architekt. Ich weiß, dass die Juliane totgeschlagen wurde. Jeder weiß es. Alle wissen es. Sie wissen es auch, Inspektor!“ Otto Silber wurde immer lauter und fuchtelte jetzt aggressiv mit seinem Stock vor dem Gesicht von Siebels herum. Siebels saß verdutzt vor dem aufgebrachten alten Herrn und wusste nicht so recht, wie er reagieren sollte. Erleichtert nahm er Charly wahr, der gerade wieder das Büro betrat. Charly schüttelte lächelnd den Kopf und redete beruhigend auf Otto Silber ein. „Der Herr Siebels bringt Sie jetzt erst mal nach Hause, Herr Silber. Das Abendessen wartet schon auf Sie.“

Otto Silber ließ sich wieder auf seinem Stuhl zurücksinken. „Ja, ich habe Hunger. Aber was ist denn mit der Juliane?“

„Darum kümmere ich mich“, lenkte Siebels ein. „Wenn ich Genaueres weiß, sage ich Ihnen sofort Bescheid.“ Siebels nahm einen Zettel von Charly entgegen. Seniorenresidenz Sonnenschein, stand darauf. Dort wurde Otto Silber schon schmerzlich vermisst. Charly beugte sich flüsternd zu Siebels. „Das liegt an der Wilhelmshöher Straße in Seckbach. Herr Silber ist dement.“

„Das habe ich mir schon gedacht“, flüsterte Siebels zurück. „Na, dann bringe ich ihn mal zurück.“ Siebels schloss seine Schränke und Schubladen ab und machte sich mit Herrn Silber auf den Weg. Otto Silber folgte Siebels wortlos durch die langen Gänge des Polizeipräsidiums. Siebels verspürte schon seit einiger Zeit den Druck in seiner Blase, der nun stärker wurde. Zwischen zwei Büros, an denen sie gerade vorbeigingen, lag eine Toilette. Siebels schaute zu Otto Silber. „Müssen Sie auch mal auf die Toilette?“

Otto Silber schüttelte energisch den Kopf. „Nein, nein. Ich will mein Abendessen.“

„Dann warten Sie bitte einen kleinen Moment hier auf mich. Ich bin gleich wieder bei Ihnen.“ Siebels hatte nun das Gefühl, sich jeden Moment in die Hose zu pinkeln, wenn er sich nicht beeilte. Schnell verschwand er hinter der Toilettentür. Als er zwei Minuten später wieder herauskam, war von Otto Silber nichts mehr zu sehen. Siebels fluchte. Dann vernahm er aus einem der Büros die Stimme seines Schützlings. Siebels atmete erleichtert auf und öffnete die Bürotür. Es war das Zimmer von zwei Kommissaren, die sich mit Bandenkriminalität auseinandersetzten. Die beiden hartgesottenen Beamten saßen wie eingeschüchterte kleine Jungs hinter ihren Schreibtischen. Otto Silber schlug mit seinem Stock auf einen der Schreibtische ein.

„Wo sind denn die Zeichnungen? Geben Sie mir sofort die Zeichnungen!“ Otto Silber machte einen sehr aufgebrachten Eindruck. „Sitzen die hier den ganzen Tag rum und klotzen sich gegenseitig blöd an, das darf doch nicht wahr sein. Die Zeichnungen müssen heute noch fertig werden. Wo haben Sie sie hin? Los, raus mit der Sprache!“ Um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, schlug er wieder seinen Stock auf die Schreibtischplatte.

„Herr Silber, die Herren sind keine Architekten und keine Zeichner. Das sind auch Kriminalkommissare.“ Siebels legte seine Hand auf die Schulter des aufgebrachten Mannes und versuchte, ihn zu beruhigen.

„Aber die Zeichnungen“, stammelte Otto Silber. „Wir haben doch Abgabetermin.“

„Jetzt bringe ich Sie zum Abendessen. Das habe ich Ihnen doch versprochen.“

„Ja, gut. Ich habe Hunger.“ Otto Silber ließ sich am Arm von Siebels aus dem Büro führen. An der Türschwelle drehte er sich noch einmal um. „Bis morgen habt ihr die Zeichnungen aber fertig, ihr faulen Hunde.“

„Alles klar, Chef, wird erledigt“, versuchte Kriminalkommissar Behrend seinen Besucher zu beschwichtigen. „Sowie wir die Hells Angels dingfest gemacht haben, kümmern wir uns um die Zeichnungen“, gab nun auch Kommissar Schramm seinen Kommentar ab.

Siebels kannte die beiden flüchtig. Er zeigte ihnen den erhobenen Daumen. „Gut so. Und jetzt wieder an die Arbeit, ihr faulen Hunde. Ich bringe den Chef derweil zur Seniorenresidenz Sonnenschein. Wünsche einen angenehmen Feierabend.“ Als Siebels Otto Silber wieder aus dem Büro bugsiert und die Tür geschlossen hatte, hörte er das Gelächter der beiden. Er fand es jetzt aber gar nicht mehr lustig. Otto Silber schaute ihn wieder ganz treu und traurig an. Siebels wünschte, er könnte dem alten Mann etwas Gutes tun. Wenigstens konnte er ihn sicher zurück ins Heim begleiten.

 

Während der Fahrt saß Otto Silber meist schweigend auf dem Beifahrersitz. Siebels hörte den Nachrichten im Radio zu und als im Anschluss Musik von Tina Turner lief, fragte er sich, wo und wie er seine letzten Tage einmal verbringen würde. Um die trüben Gedanken beiseitezuschieben, erzählte er Herrn Silber, dass er in wenigen Tagen heiraten würde.

Otto Silber drehte seinen Kopf zu Siebels und schaute ihn an. „Tun Sie das besser nicht“, sagte er dann leise.

Siebels hatte das Gefühl, dass sein Beifahrer in diesem Moment völlig klar im Kopf war.

 

In der Seniorenresidenz erwartete man Otto Silber schon sehnlichst. Zwei Pfleger nahmen ihn in Empfang. Siebels wies sich als Kommissar aus und hegte den Wunsch, noch mit jemandem von der Heimleitung zu sprechen. Während einer der Pfleger Otto Silber zu seinem Abendessen brachte, brachte der andere Siebels ins Büro der Heimleitung.

„Roswitha Hebenstein ist mein Name. Vielen Dank, dass Sie sich die Mühe gemacht und unseren Herrn Silber persönlich abgeliefert haben.“ Frau Hebenstein war Ende fünfzig. Sie trug eine goldumrandete Brille, hochgestecktes Haar, einen Rock mit Schottenmuster und einen Rollkragenpullover.

„Herr Silber macht mir einen sehr verwirrten Eindruck“, begann Siebels das Gespräch mit ihr.

„Ja, er leidet unter Demenz. So wie die meisten unserer Bewohner. Wir passen daher auch gut auf, dass sich niemand heimlich aus dem Staub macht. Aber Herr Silber hat uns heute Vormittag anscheinend ausgetrickst.“

„Sie meinen, er ist ganz gezielt ausgebüchst? Ich dachte eher, er hätte vielleicht einen Spaziergang gemacht und dabei die Orientierung verloren.“

„Nein. Er hat das ganz genau geplant. Er hat mehrere Leute vom Personal angeschwindelt und zwar so gezielt, dass er unbemerkt das Haus verlassen konnte.“

Siebels runzelte die Stirn. „So sehr verwirrt ist er dann also doch nicht.“

„Seine Demenz ist schon ziemlich weit fortgeschritten. Aber er befindet sich in keinem kontinuierlichen Zustand der geistigen Verwirrung. Sie können sich das folgendermaßen vorstellen: Das Gehirn von demenzerkrankten Menschen gleicht dem Himmel. Es gibt Momente, da ist kein Wölkchen am Himmel. Es ist klar und blau. Solche Momente erlebt auch Herr Silber hin und wieder noch. Da denkt er ganz klar und logisch. Dann tauchen aber kleine Wolken auf. Diese Wolken trüben das Kurzzeitgedächtnis. Namen von Personen aus dem unmittelbaren Umfeld sind plötzlich nicht mehr greifbar. Was vor wenigen Minuten noch passiert ist, ist plötzlich wie ausradiert im Gedächtnis. Diese Wolken ziehen immer öfter auf. Betroffene Menschen merken natürlich, dass ihr Erinnerungsvermögen sie nach und nach im Stich lässt. Aber je bewölkter es in unserem Gehirn wird, desto schwieriger wird es für uns, uns mit unserer Umgebung zu arrangieren. Diese Wolken trüben zunächst das Kurzzeitgedächtnis. Weiter hinten bleibt es klar und blau. Die Vergangenheit ist noch präsent und je weiter sie zurückliegt, desto klarer kommt sie wieder zum Vorschein.“

„Herr Silber war früher Architekt?“, erkundigte Siebels sich.

„Ja. Er hat das Architekturbüro Silber gegründet. Sie haben vielleicht schon davon gehört? Seine beiden Söhne leiten es jetzt.“

Siebels lächelte. „Auf dem Polizeipräsidium hat ihn die Vergangenheit wohl wieder eingeholt. Er ist in das Büro von zwei Kollegen marschiert und hat sie böse beschimpft, weil sie die Zeichnungen noch nicht fertig hatten.“

„Das ist genau der Punkt. Eben hegt er vielleicht noch einen klaren Gedanken, im nächsten Moment trüben aber schon wieder einige Wolken sein Erinnerungsvermögen und er flüchtet zu dem Stück klaren Himmel, das vielleicht zwanzig, dreißig oder gar fünfzig Jahre in der Vergangenheit liegt. Diese alten Erinnerungen projeziert er aber in die Gegenwart und dann kommt alles durcheinander. Er ist nicht mehr in der Lage, mit seinen Mitmenschen zu kommunizieren, weil er das, was man gerade gemeinsam erlebt, mit Erlebnissen aus seiner Vergangenheit kombiniert. Sein Gesprächspartner kann natürlich nicht mehr nachvollziehen, wie er den Wolken in seinem Gehirn ausweicht und irgendwo in der Vergangenheit wieder auftaucht. Ein zusammenhängendes Gespräch ist also kaum mehr möglich. Menschen wie Herr Silber merken natürlich, dass man sie dann nicht mehr für voll nimmt. Aber sie wissen nicht, warum. Sie hangeln sich von einem klaren Stück Himmel zum nächsten, ohne dabei zu bemerken, dass sie sich auf einer Zeitreise durch die Vergangenheit befinden. Mit jedem Satz, den sie sagen, stoßen sie dann auf Unverständnis. Und das ist das Fatale. Sie erleben, wie sie von ihren Mitmenschen für blöd gehalten werden. Darauf reagieren sie dann entsprechend. Entweder verschließen sie sich völlig oder sie legen aggressive Verhaltensweisen an den Tag.“

Siebels dachte wieder an Otto Silber und schmunzelte. „Herr Silber scheint gerne mit seinem Stock auszuschlagen, wenn er nicht für voll genommen wird.“

„Ja, das haben Sie also auch erlebt. Das kommt öfter vor. Ich befürchte aber, in einigen Monaten hat er auch diese Phasen hinter sich. Dann wird er hauptsächlich mit einem stark bewölkten Himmel leben müssen und wenn es noch schlimmer wird, herrscht irgendwann dichter Nebel in seinem Kopf und die letzten Flecken von klarem Himmel geraten ganz außer Sichtweise. Dann ist er vollkommen pflegebedürftig.“

„Als ich ihn hergefahren habe, erzählte ich ihm, dass ich Ende der Woche heiraten werde. Mein zweiter Versuch. Er schaute mich an und sagte dann, dass ich das besser nicht tun sollte. Und ich hatte das Gefühl, dass er in diesem Moment einen völlig klaren Himmel hatte, keine Wolke weit und breit.“

Frau Hebenstein nickte wissentlich. „Das kann gut sein. Seine Frau ist ein Drachen.“

„Sie lebt noch?“

„Oh ja. Frau Silber erfreut sich bester Gesundheit. Um ihren Mann kümmert sie sich aber nicht mehr. Den hat sie abgeschrieben. Sie kümmert sich lieber um ihre Söhne und sorgt dafür, dass die das Erbe ihres Vaters aufrechterhalten. Das Architekturbüro Silber.“

„Eine Frage habe ich noch“, sagte Siebels nachdenklich. „Herr Silber ist im Polizeipräsidium erschienen, um einen Mord zu melden. Eine Juliane Mangold sei ermordet worden. Sagt Ihnen der Name etwas?“

„Juliane Mangold? Oh je, ich befürchte, da hat er einiges durcheinandergebracht. Eine unserer Pflegerinnen heißt Jana Mangold. Sie kümmert sich um Herrn Silber und sie kommt sehr gut mit ihm zurecht. Sie ist aber seit einer Woche im Urlaub. Ich glaube, Herr Silber vermisst sie sehr. Da hat er den ganzen Aufwand also betrieben, um seine Jana von der Polizei suchen zu lassen. Noch eine Woche, dann ist sie wieder da. Bis dahin werden wir ihn wohl gut im Auge behalten müssen.“

„Ist Jana die Kurzform von Juliane?“

„Ich glaube, Jana ist ihr richtiger Name. Wie er auf Juliane kommt, kann ich mir jetzt auch nicht erklären. Aber vielleicht gab es mal eine Juliane in seinem Leben. Das könnte auch 60 oder 70 Jahre her sein. Vielleicht seine erste große Liebe, die er jetzt wiederentdeckt hat.“

„An einem kleinen blauen Stück Himmel, ganz weit weg“, ergänzte Siebels.

„Genau. Ich mag diesen Vergleich mit dem Himmel. Die Angehörigen verstehen gleich viel besser, was mit ihren Lieben los ist, wenn die von der Demenz heimgesucht werden. Das erleichtert das Zusammenleben ungemein, wenn man sich eine Vorstellung von dem macht, was so ein Mensch erleidet.“

„Ja, das stimmt. Mir erscheinen die Verhaltensweisen von Herrn Silber jetzt auch nachvollziehbar. Allerdings kann ich auch nicht mehr ausschließen, dass Herr Silber tatsächlich einen Mord melden wollte. Vielleicht einen Mord, der schon 50, 60 oder 70 Jahre zurückliegt. Ich würde mich gerne mit dieser Jana Mangold mal unterhalten. Wissen Sie, ob sie verreist ist?“

„Das kann ich Ihnen leider nicht sagen. Ich weiß es nicht.“

„Können Sie mir ihre Telefonnummer geben?“

„Hat das nicht Zeit bis nächste Woche? Dann ist sie doch wieder hier und kann sich bei Ihnen melden.“

„Leider nein. Ich bin bei der Mordkommission und muss jedem Hinweis auf einen Mord unverzüglich nachgehen.“ Siebels staunte über seine eigenen Worte. Auf dem Präsidium hatte er die Aussage von Otto Silber nicht als ermittlungswürdig eingestuft. Jetzt witterte er aber eine Spur und er wollte nicht eine Woche ins Land ziehen lassen, ohne etwas zu unternehmen. Frau Hebenstein schrieb ihm die Telefonnummer von Jana Mangold auf.

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© Autor Stefan Bouxsein